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12:07:30 – Rhythmusturbulenzen

Und dann passierte auch noch diese Sache mit meinem Fell am unteren Rücken. Es löste sich einfach ab. Erst war es nur eine kleine Stelle, die ein bisschen juckte. So, als hätte mal wieder eine Mücke ihren Rüssel durch mein Fell in meine rosa Haut gewühlt. T fiel das Loch im Schwarz erst auf als ich aus dem See kam und mich schüttelte. Tut das weh?, fragte T, strich mir über die Stelle – und war erschrocken, weil ein nasses Fellbüschel an ihren Fingern klebte. Obwohl ich nicht zusammenzuckte – es tat noch nicht weh, juckte nur -, roch ich T’s Besorgnis. Als sie nicht hinguckte, versuchte ich das Jucken zu verbeißen. Aber ich kam nicht mit meiner Schnauze dran – weil mich ja die Spondylosen und die Arthrose ärgerten.

Innerhalb einer Woche schmerzte meine felllose Stelle bei jeder Berührung und war so groß, dass T sie fotografierte und mir einen Zollstock auf den Rücken drückte. Dabei murmelte sie ungläubig 15 mal 17. Ist 255, hat sie laut gesagt und ratlos und entsetzt geguckt. Hat Dr. C angerufen und um Hilfe gebeten. Weil Dr. C aber immer mal wieder in Hamburg arbeitet, konnte sie uns an diesem Tag nur zu einem Kollegen schicken. Also sind wir mit meiner 255 zum Tierarzt um die Ecke. T hat ihm nie wirklich vertraut. Weil er eben einer von den Grünkitteln ist, der zwar freundlich und sanft ist, aber eben auch nach Ratlosigkeit und Unentschlossenheit riecht. Ich musste auf die Metallliege, die nach oben fährt. Dann hat der Grünkittel mir das Fell erst am einen, dann am anderen Bein abrasiert. Hat mich gepikst und mein Blut in ein Röhrchen laufen lassen. War alles noch zu ertragen. Aber dann hat er mit einer Rasierklinge meine Haut am Rücken abgeschabt. Da, wo sowieso schon alles wund und entzündet war. Ich hätte den Grünkittel am liebsten gebissen. So habe ich nur gezuckt, T hilflos angeguckt und T hat hilflos zurückgeguckt und gesagt: Du machst das prima, Puppy. Ist gleich vorbei. Zuhause schmierte T die Schmerzstelle mit einer Salbe ein, die nicht linderte. Mogelte mir Tabletten ins Futter, die nicht halfen.

Irgendwann kam Dr. C zurück aus Hamburg und hat uns – ohne Rudi – besucht. Hat sich die 255, die Tabletten und die Salbe genau angeguckt gesagt: Völlig falsche Dosierung, das falsche Medikament, viel zu schwach. Dr. C gab T die richtigen Medikamente in der richtigen Dosierung. T gab sie mir in herrlich sahnig-cremigen Camembert gedrückt. Hat ruckzuck geholfen. Jucken weg, 255 weg, Fell wieder da. Und die Erleichterung bei T kam auch zurück. Genau wie meine anderen Schmerzen.

*

Es gab immer diesen verlässlichen Rhythmus in unserem Leben: Alle vier Wochen braucht T für zwei oder drei Tage unfassbar viele Taschentücher und ihre Ruhe. Also warte ich geduldig darauf, dass T’s vertrauter Geruch nach Fröhlichkeit zurückkommt. Solange ich mich erinnern kann, vergisst T diesen Rhythmus aber immer wieder aufs Neue. Sobald er mal wieder überstanden ist und keine weichen Taschentücher mehr übrig sind, sagt T jedes Mal: Sind bloß die Hormone. Was heißt hier bloß Hormone? Sie machen T traurig. Alles, was T traurig macht, ist mein Feind. Blöderweise schleichen sich bloß Hormone immer unbemerkt an. Schwupps – da sind sie. Vermutlich pirschen sie sich nachts rein, heimlich, still und leise. Jedenfalls habe ich sie noch nie erwischt, wenn sie über T herfallen. Was ärgerlich ist und mich an meinem Beschützerinstinkt ein bisschen zweifeln lässt. Wenn ich könnte, ich würde ihnen nämlich Beine machen, diesen blöden bloß Hormone.

Nun ist dieser verlässliche Rhythmus weg aus unserem Leben. T ist nicht mehr nur ein paar Tage, sondern rund um die Uhr unglücklich. Sie weint jeden Tag. Oft mehrmals. Ohne Ankündigung. T hat früher nie auf der Straße geweint. Jetzt schon. Oft fällt sie noch vor dem Laden Blumen-A um den Hals. Blumen-A streichelt ihr dann den Rücken und sagt: Mach dich doch nicht so verrückt. Es ist noch Zeit. Das hat sie allerdings auch schon lange nicht mehr gesagt.

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Zeit. Zeit ist ein seltsames Wort. Ich verstehe den Sinn von Zeit nicht. Zeit im Zweibeinersinn spielt für mich auch keine Rolle. Ich lebe im Augenblick. Das habe ich immer getan. Wäre schön, T würde das von mir lernen. Tut sie aber nicht. Und das, wo es doch Zeit gar nicht gibt. Zumindest einige Zweibeiner wissen das, wenn es beispielsweise um mich geht. Für Tiere macht es keinen Unterschied, ob sie eine halbe Stunde und eine Woche ohne ihr Herrchen oder Frauchen sind. Jedes Mal protestiert T dann aber: Milla vermisst mich, wenn wir getrennt sind. Sie leidet. Natürlich kennen Tiere Zeit. Der erste Teil stimmt. Aber Zeit? Zerhackt in Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Jahre? Klar kenne ich diese Einteilung. Habe ich mühsam gelernt, ohne sie wirklich zu begreifen, geschweige denn unterscheiden zu können. Warum muss denn überhaupt alles in Zeit eingeteilt und gemessen werden? Wozu? Wenn Zweibeiner nicht so fern der Natur leben würden, dann bräuchten sie nicht das Dauerticken ihrer Uhren, schielten sie nicht ständig auf irgendwelche Daten und Zahlen, um sich zu orientieren, was sie wann tun müssen. Deswegen können viele Zweibeiner ja auch nicht gut im Jetzt leben. Weil immer irgendwas ist. Weil die Zeit drängt. Wirklich? Als könnte ein Konstrukt einen zu irgendwas drängen. Aber offensichtlich sind Zweibeiner ganz wild auf Zeit. Zumindest einige.

Wer Zeit braucht und nutzt, unterliegt Zwängen. Und damit Druck. Hat ein Zweibeiner gesagt, den ich nicht weiter kenne. Weil er aber so warm und weich und fröhlich roch, erinnere ich mich an ihn. Er hat auch gesagt: Wie viel einfacher wäre doch das Leben, wenn man jeden Moment einfach genießen würde, ohne ihn zu messen. Ich glaube, dieser Zweibeiner ist klug. Er hat verstanden, dass es keine Rolle spielt, was gestern war und morgen sein wird. Im Jetzt, Hier und Heute lebt es sich jedenfalls sehr schön und sorgenfrei. Ich behaupte nicht, generell klüger als T zu sein. Aber in Sachen Zeit bin ich es. Ganz sicher. Ginge es nach mir, würde die Zeit einfach abgeschafft.

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Als Blumen-A zu T gesagt hat: Es hat doch noch Zeit, habe ich das so verstanden, dass es noch nicht so weit ist. Dass es noch dauert. (Wer oder was auch immer es ist). Aber T hat sich trotzdem nicht beruhigt. Im Gegenteil. Sie roch so nach Angst und Hoffnungslosigkeit, dass ich schließlich ganz unruhig wurde. Was ich T aber nicht gezeigt habe. Ich habe einfach so getan, als wäre alles wie immer. Auch wenn jetzt eben alles langsamer passiert als früher. Und dann kam Dr. C vor zwei Abenden zu uns. Sie hat gesagt: Wir probieren etwas anderes, für zwei Tage. Das ist genug Zeit, um herauszufinden, ob es funktioniert. Da roch T dann für einen Moment schwach nach Hoffnung und Zuversicht. Wobei, das schon so vertraute Angstaroma der letzten Monate hüllt T immer noch ein.

Während ich hier auf meiner Wolke liege, denke ich, dass Zeit und herausfinden schon mal Thema waren. Damals ging es um T’s Schwester K. Bei ihr habe ich für eine Zeit lang gelebt. Es ging auch darum, etwas herauszufinden. Was war das damals nur? Ich atme langsamer, um die Erinnerung, biegsam wie das wogende Grasmeer im Schlosspark, zu fangen. Aufmerksam pflüge ich durch das kitzelnde Grün aufregender und glücklicher Gedanken. Und erinnere mich wieder.

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