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12:23:00 – Wahlverwandtschaften

Wenn eines schwierig zu akzeptieren ist, dann sind es Ausnahmen. Wie zum Beispiel, wenn der Thüringer uns ausnahmsweisekeine knackig-knusprigen Schweineohren verkauft. Weil wir ausnahmsweisezu lange bei Buch-K oder Wurst-B waren oder weil viel zu viele Zweibeiner ausnahmsweiseauch Brötchen kaufen wollen. Dann sind wir ausnahmsweiseerst auf dem Markt, wenn auf den Holztischen nur noch vereinzelte Restbeute liegt. Wenn vor dem Thüringer keine Zweibeinerschlange Geduld von mir verlangt.

Wenn wir also ausnahmsweisezu spät auf dem Markt sind, hilft nichts. Kein kerzengerades Sitzen. Kein Fixieren mit zurückgelegtem Kopf, die Nase witternd, die Pfote freundlich erhoben. Keine vorgeklappten Ohren, kein Starren nach links. Da wo die beiden Schweineohrentrauben hängen. Normalerweise. An so einem Tag ist da nur empörende Leere.

So eine Ausnahme kündigt sich vorher ja nie an. Das macht es so schwierig, sie zu verstehen und noch viel schwieriger sie zu akzeptieren. Ich bestehe nicht auf starre Routine. Dennoch, ich bin ein Gewohnheitstier. Und der Besuch beim Thüringer ist in meinem kleinen Köterhirn nun mal abgespeichert unter sechs Schweineohren = Höhepunkt unseres wöchentlichen Beutezugs.

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Es gab also an diesem besagten Ausnahmetag kein Krümelchen Räucherknusperreserve. Nicht mal unterm Ladentisch. Da hat T mit diesem Flirren in der Stimme gesagt: Wie sollen wir denn jetzt bitte die Woche überstehen? Milla wird verhungern. Der Thüringer hat mich mitleidig angesehen und gesagt: Ja, so sieht sie aus, das arme Ding. Aber damit muss ich dann wohl leben. Worauf T gesagt hat: Was stimmt denn mit dir nicht? Und der Thüringer: Gar nichts – ich habe fünf Kinder. Dann haben er und T gelacht. Und ich habe weiter stoisch bittend ins Nichts gestarrt.

Da piepste plötzlich eine Vogelbabystimme in meinem Rücken: Darf ich Ihrem Hund eine Wurst schenken? T und ich drehten uns um. Vor uns stand eine winzige Zweibeinerin mit einem Gesicht wie ein runzliger Pfirsich. Als kleine Entschädigung, weil es heute keine Schweineohren gibt, sagte die Zweibeinerin. Ich wedelte freundlich und erfreut. Entschädigungbedeutet immer etwas Positives. Der Thüringer schaffte es, schuldbewusst und gleichzeitig erfreut auszusehen. Während er von der alten Zweibeinerin zu T schaute, wanderte seine Hand mit den vielen schwarzen Haaren schon Richtung Würstchenberg. Ich roch T’s Zögern, ihre Überforderung und ahnte Schlimmes. Also wedelte ich noch ein bisschen doller. Sah von der alten Zweibeinerin zum Thüringer zu T zur alten Zweibeinerin. In T’s Augen flackerte etwas, was ich viel später als Verlegenheit begriffen habe. Die alte Zweibeinerin schaute aus knittrigen Regenwolkenaugen zu mir und zwitscherte: Ich würde das wirklich sehr gerne tun. Dann sah sie zu T: Darf ich?

Es ist mein Glück, dass T so weichherzig ist. Dass sie einfach nicht neinsagen kann. Also tendenziell, nicht generell. In Bezug auf mich, da kann sie. Ohne Probleme, ohne Gewissensbisse, ohne großes Abwägen. Wenn es darum geht, dass ich Dinge tun möchte, die sie nicht möchte, dass ich sie tue. Betteln, zum Beispiel. Oder schwimmen, wenn T die schwarze Wollstrumpfhose und Stiefel zum Kleid träg. Aber wenn ein Zweibeiner T um etwas bittet, vor allem wenn es ein alter Zweibeiner ist, dann sagt sie immer ja. Selbst, wenn sie eigentlich neinmeint.

Ich spürte T’s jaschon, bevor sie wusste, dass sie es sagen würde. Richtig, ich war satt. Aber grundsätzlich verweigere ich NIE ein Geschenk. Und wäre es nicht geradezu sträflich, freiwillig eine Entschädigung abzulehnen? Was sind schon die zwei Kekse von Blumenladen-A, der Apfelrest von Buch-K, das Würstchen von Wurst-B, die drei Kekse im Zeitungsladen, geschweige denn der ganze Apfel aus Petzow? Fand T wohl auch. Denn ich bekam mein Entschädigungswürstchen. In Rekordzeit atmete den köstlichen Schweineohrersatz ein, den die winzige Vogelbabystimmenzweibeinerin mir schenkte. Die wirkte dabei so glücklich wie T ganz früh morgens, wenn sie barfuß über den feuchten Rasen tapst oder unser lachsfarbener Mohn aufgeblüht ist oder es klappert, weil sich das Eichhörnchen aus dem Futterkasten am Zaun eine Haselnuss angelt.

Dieses letzte Geschenk des Tages war übrigens der Auftakt für den Tag, den T zum Wahlverwandtschafts-Tag erklärt hat. Wahlverwandtschaften, so viel habe ich behalten, ist nicht nur ein berühmter Roman von einem berühmten deutschen Autor aus dem Jahr 1809. Sondern auch eine Folge von T, die sie für den Landarztgeschrieben hat. Ich mag die Vorstellung, dass man sich seine Familie selber aussuchen kann, hat T mal gesagt. Ich bin gerne ein Wahlverwandter. Klappt doch prima, mit mir und T. Deswegen stehe ich weiterem Familienzuwachs durchaus aufgeschlossen gegenüber. Und akquiriere hin und wieder auch mal welchen. Wobei ich nur bei einer Wahl wirklich Erfolg hatte.

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