Bildung schadet nur dem, der sie nicht hat. Das hat T gesagt, in unserem vierten Sommer in unserem neuen Zuhause. Und: Milla, wir sollten mal wieder was für unsere Bildung tun. Bildung. Was für ein hübsches Wort. Allerdings, woher bekommt man Bildung? Kauft man sie im Supermarkt? Liegt die irgendwo im Garten oder findet man sie im Wald? Und vor allem: Was macht man mit ihr? Ist sie am Ende vielleicht ein Leckerbissen?
Soviel kann ich vorab verraten: Bildung ist nicht immer leicht verdaulich. Sorgt manchmal sogar für Bauchschmerzen. Aber, man kann sie kaufen UND fressen. Jawohl.
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T hatte also dieses dubiose, nicht näher erklärte Bildungsziel. Damit hatte ich es auch und folgte ihr treu die Straße runter. Wir wurden allerdings für einen Moment von unserer Suche abgelenkt als mich Schäferhund Maylows Zweibeiner Kneipen-A quasi im Vorbeigehen in den Adelstand erhob. Sehr nette Geste, die mein Leben allerdings nicht tiefgreifend verändert hat.
Kneipen-A verwickelte T in ein Gespräch, während ich etwas unwiderstehlich Verlockendes auf der Straße entdeckte. Was ist so unwiderstehlich, verlockend und dabei absolut tabu? Richtig. Ein Dönerrest! So was von verboten! Gegen meinen Fress-Instinkt bin ich machtlos. Selbst frisch gefüttert. Er überrollt mich. Vor allem, wenn ich von T nur ihren Rücken sehe. Der Dönerrest lockte mich, sein Duft kringelte sich in meine Nase, die immer länger wurde. Ich wollte versuchen, wenigstens das köstliche Aroma einzusaugen, ohne meine Pfoten vom Bürgersteig zu nehmen. Funktionierte nicht. Also tapste ich vorsichtig und lautlos den Bürgersteig runter. Meine Schnauze öffnete sich dabei von ganz alleine.
Natürlich! In genau diesem Moment drehte sich T um. Seit der Pferdeapfelaffäre in unserer alten Heimat spürt sie sofort, wenn mir auch nur ein winziger Rückfall droht. Leider. T brüllte also: Milla! Von der Straße! Vor lauter Schreck ertappt worden zu sein, strauchelt ich kurz. Hier her, aber flott!, rief T. Was blieb mir anderes übrig? Ich verzichtete. Mehr betrübt als beschämt, erwischt worden zu sein, trottete ich mit hängender, um Entschuldigung zart wedelnder Rute zurück zu T.
Kneipen-A lachte: Kluger Köter. Vermutlich schimpfte T deswegen nicht. Weil sie geschmeichelt war. Sie ist immer geschmeichelt, wenn andere mich als klug bezeichnen. Und sie hielt mir glücklicherweise auch keinen ihrer Vergiftungsvorträge. T sah mich bloß an, schüttelte den Kopf und streichelte mich gleichzeitig. Sie war also nicht ernsthaft böse. Merke: Für den Versuch, etwas Verbotenes zu tun, droht nicht automatisch Liebesentzug.
Sofort vergaß ich meine Niederlage und bellte T ein paar Mal an. Erleichtert, dass mein kleiner Beinahe-Ausrutscher keine Folgen hatte. Bislang hatte ich Kneipen-A nie richtig zur Kenntnis genommen, war immer mehr an Maylow interessiert gewesen. An diesem Tag war er aber nicht dabei, also nahm ich jetzt Kneipen-A genauer in Augenschein. Das Resultat kam überraschend schnell: Ich mochte ihn. Nicht wegen seiner bunten Arme. Oder den Löchern in seinen Ohrlappen, die so groß sind, dass die Sonne durchgucken kann. Nein. Kneipen-A riecht herrlich. Nach dieser besonderen Art von Humor, den auch T hat. Kneipen-A zeigte seine Zähne und sagte: Adelig die Dame, also. Sehr erfreut, Milla von der Straße.
Ja, so schnell kann ein Köter zum Royalty werden. Während Zweibeiner dafür richtig tief in die Tasche greifen oder schlimmstenfalls heiraten müssen, braucht sich unsereiner nur bei einer nicht ganz so erwünschten Aktion im Beisein von Kneipen-A erwischen zu lassen. Jedenfalls begrüßt mich Kneipen-A seitdem immer mit: Na, Milla von der Straße, alles schick?
Kleine Geschenke zementieren eine frische Freundschaft. Das weiß auch Kneipen-A. Am Abend unseres Kennenlernens hat er mir einen winzigen, runden, süßen Keks geschenkt. Den er auf die Theke legte. In dem Wissen, dass ich mich lang mache für alles, was fressbar ist. Es war ein leichtes, die Vorderpfoten auf die Thekenkante zu legen. Hals strecken, Schnauze schräg legen – schon störte kein Keks mehr die saubere Getränkeablage. Seitdem sind Konsum und Kneipen-A meine liebste Bildungs-Anlaufstelle.
Weil Kneipen-A arbeiten musste und T und ich ja auf Bildungsbeute waren, marschierten wir ins Thalia. Durch die Doppelglastür zur Theke, hinter der Kino-C steht. T sagte: Wir machen heute mal auf intellektuell. Was empfiehlst du? Kino-C sagte: Saal 1. Französischer Cannes-Gewinner. Viel zu viele unverständliche Informationen für mich. Aber T nickte, bekam einen Zettel und sagte: Und einmal Popcorn. Kino-C überreichte T eine große Tüte mit süß riechenden, weißgoldgelben Maiswölkchen. So riecht also Bildung, dachte ich begeistert und schielte auf den übervollen Behälter in T’s Hand. T steckte den Zettel ein. Dabei fiel ein fluffiges Körnchen runter, was ich sofort einatmete. Unglaublich! Es schmeckte noch besser als es roch! Wenn Bildung so herrlich süß ist, dann nehme ich jeden Tag eine Portion. Eine ganz große, gerne auch eine doppelte.
Unangeleint (!) tänzelte ich dem Popcorn und T hinterher. Folgte beiden in einen Raum mit vielen Klappsesselreihen, dorthin, wo niemand sonst saß. Ohne Aufforderung setzte ich mich neben T auf den rauen Teppich und starrte auf die Bildung, in der Hoffnung, sie werde mir ein weiteres Mal vor die Pfoten fallen. Es wurde dunkel. Musik erklang. Für meinen Geschmack zu laut. Eigentlich. Aber wenigstens plumpste die Bildung aus der Tüte in regelmäßigen Abständen zu Boden. Und ich verschlang sie mit Hingabe.
Während T immer tiefer in ihren Sessel sank und auf die Leinwand starrte, manchmal lachte und sich ein paar Mal mit der Hand über die Augen fuhr, als wäre sie müde, lüftete ich schließlich das ultimative Bildungsgeheimnis: Es liegt am Boden. Verteilt in kleine Häppchen. Kaum sichtbar ob der Dunkelheit, dafür aromatisch. Man muss es nur riechen und – verschlingen. Gierig zu sein und gleichzeitig zu goutieren, das schließen sich definitiv nicht aus. Dafür bin ich der lebende Beweis. Ohne T zu stören, robbte ich durch unseren Gang. Genoss das leise Krascheln, Krachen und Knuspern, wenn ich ein weiteres Bildungskörnchen kaute. Danach war der Gang vor uns dran. Und ich anschließend so erschöpft, dass ich zu T’s Füßen einschlief.