Meine erste Begegnung mit Kühen. Passiert bei einer herrlichen Wanderung über die Felder im Südsolling mit T und deren Schwester C in meinem ersten Frühling. Ein perfekter Tag. Nicht zu heiß, eine leichte Brise, blauer Himmel, Schäfchenwolken. Unser Weg führte uns durch Schrebergärten, vorbei an Zwerghühnern. T liebt diese bunten, plusterigen Prachtpuschler. Erstaunlich eigentlich, dass bei uns keine wohnen. Böse bin ich deswegen kein bisschen. Im Gegenteil. Dieses hysterische Scharren im Dreck, das wilde Durcheinandergackern und ständig hektische Picken. Muss man mögen. Könnte ich auch alles noch akzeptieren. Aber wenn ich die Hühner mit einem freundlich-fröhlichen: Hallo, die Damen, wie geht’s? begrüße, verstummen sie erst und rennen dann kreischend unter eine Tanne, wo sie sich nervös aneinander kuscheln, als wäre ihnen kalt. T behauptet, Hühner verweigern aus Prinzip Kontakt mit jedem, der keine Federn hat. Schon auch ignorant und ausgesprochen unhöflich. Aber ich dränge mich nicht auf. Deswegen verkneife ich mir inzwischen meinen lautstarken Gruß. Nicht mal einen kurzen Blick durch den Maschendraht gönne ich dem Federvieh noch.
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Nach dem gluckigen Geflügel kommt übrigens immer der erste Höhepunkt jeder unserer Spaziergänge: Das Speckebecken. Gebaut aus grauen Feldsteinen, gefüllt mit eiskaltem Quellwasser, das durch eine gemauerte Öffnung sprudelt und bis zu Öpas Haus und daran vorbei fließt. T setzt sich meist auf die kleine Natursteinmauer oder die olle Holzbank und schaut mir zu, wie ich durch das kalte Wasser plansche, mich innerlich und äußerlich abkühle und am liebsten den Rest des Tages hier verbringen würde. An diesem Tag mit C hatten wir keine Eile. Herrlich. Ich plantschte ausgiebig und vergas alles um mich herum. Obwohl ich überwiegend das Tempo unserer Hunderunden bestimmen darf, rief T irgendwann dann doch: Aufbruch, weiter! Und damit begann unsere Weperwanderung.
T und ich lieben die Weper. Sie ist eine üppig grüne, steile Erhebung. So steil, dass T immer langsamer wird, je länger wir bergan gehen. Während ich ungebremst wild rauf und runter stürme, ohne das kleinste Erschöpfungsanzeichen, als winke am Ende eine Belohnung. Wenn wir schließlich oben am Waldrand sind, bleibt T stehen, atmet tief ein und aus, dreht sich ganz langsam mit ausgebreiteten Armen einmal um sich selbst und saugt dabei mit ihren Augen alles auf. Die winzigen roten und schwarzen Dächer, den schiefen Kirchturm, den Horizont, der in sanften Wald- und Felderlinien den Himmel streichelt. Lieblich, seufzt T jedes Mal und nennt unsere alte Heimat mein idyllisches Märklinland.
Für mich bedeutet die Weper grenzenlose Freiheit: Es gibt kaum Zäune, je nach Jahreszeit riesige Stoppelfelder oder endlos weiche Wiesen, deren Gras mir bis zum Rücken reicht. Mein Glück ist perfekt, wenn T an meine Ballschleuder denkt. Ein biegsamer langer Stab, in den sie meinen Ball klemmt und dann sehr weit wirft. Viel weiter, als sie es ohne Schleuder schafft. Tanzt der Ball durch die Luft, pese ich den Berg rauf (oder runter), fange den Ball und rase wieder zurück zu T. Die schleudert den Ball erneut so weit, dass ich ihn manchmal aus den Augen verliere. Aber er springt immer hoch und dann fliege ich auf ihn zu und fange ihn in der Luft.
An diesem Tag mit C hatte T meine Ballschleuder vergessen. Was normalerweise kein Problem ist. Schließlich warten überall in der Welt Stöckchen in Hülle und Fülle nur auf ihre Bestimmung. Ok, fast überall. Auf der Weper nicht. Hier braucht es schon einen ausgeprägten Spürsinn, um einen einigermaßen akzeptablen Wurfersatz zu finden. Ich musste auch bei diesem Spaziergang lange suchen. Und als ich endlich einen Kirschast ergatterte, der nicht schon beim ersten Biss in zwei Teile zerbrach, lief ich sofort zu C. Ich glaube, ich hatte schon erwähnt, dass T’s Wurftalent grandios ist. Aber C kann es eben auch ziemlich gut. Und weil es mir nun mal zum Prinzip gemacht habe meine Zuneigung immer zwischen meinen Begleitern aufzuteilen, legte ich C den Ast vor die Füße. Und natürlich hat C mich nicht enttäuscht.
Ich fokussiere mich immer auf den Moment. Und auf das, was ich gerade tue. Wenn T meinen Ball oder meinen Ring schleudert oder ein Stöckchen durch die Luft tanzen lässt, bin ich blind und taub und rieche nichts, was um mich herum ist. Pferdeäpfel, zum Beispiel. Die gibt es übrigens nirgends so in Hülle und Fülle wie auf der Weper. Trotzdem bemerke ich sie an solchen Tagen fast nie. Und so war das auch mit den massigen Vierbeinern mit nassen breiten Schnauzen und nervös schlenkernden Schwänzen.
Ich hatte T und C weit hinter mir gelassen. Tobte über die Felder, auf der Suche nach meiner fliegenden Beute und plötzlich war da dieser Zaun. Als Welpe bin ich mal in vollem Galopp in so einem stachligen Draht gelandet. Sehr schmerzhaft. Diese Erinnerung ploppte warnend auf – also stoppte ich im letzten Moment. Und hinter dem Zaun standen sie. Riesige, schwarz-weiße Kolosse, die eckigen Schädel gesenkt, und zupften Grashalme. Erstaunt bemerkte ich, wie langsam sie kauten. Quasi in Zeitlupe. Ich meine, ich schaffe meine 350 Gramm Trockenfutter in unter 30 Sekunden. Für ein Schweineohr brauche ich nicht länger als zwei Minuten. Kühe dagegen brauchen eine halbe Ewigkeit für einen Grashalm.
Fasziniert wie vorsichtig tapste ich die kleine Erhebung hoch, hob eine Pfote zur Begrüßung und wartete. Ich bin nicht auf die Schnauze gefallen, wenn es um Neu-Kontakte geht. Aber an diesem Tag vergaß ich vor lauter Überraschung, dass ich eine Stimme habe, mit der ich mich normalerweise jedem fremden Wesen höflich vorstelle. Schweigend stand ich da und beobachtete gebannt, wie sich die Giganten durch nichts und schon gar nicht von mir aus der Ruhe bringen ließen. Ja, sie bemerkten mich nicht mal. Vielleicht, weil mein Hallo, guten Tag sehr viel schüchterner und zaghafter als bei meiner ersten Begegnung mit den Schrebergartenhühnern klang? Der einzige, der mir antwortete, war der Zaun. Der summte leise, ich solle mich besser von ihm fernhalten, sonst würde es knallen. Respektvoll blieb ich stehen.