12:04:00 – Identitätskrisen

Was ist der Sinn des Lebens?Wozu mache ich das alles?  Zweibeiner leiden ja gerne mal unter Identitätskrisen. T auch. Eine ihrer liebsten Rätselfragen ist: Wer bin ich? T gönnt sich dieses Quiz regelmäßig. Sie kann sich sogar bemerkenswert intensiv daran erfreuen. Variiert Reihenfolge und Wortlaut mit wachsender Begeisterung. Wenn es dann endlich so richtig aus dem Ruder läuft, steuert T zielstrebig auf den beunruhigenden Höhepunkt zu, und lässt sich durch nichts davon abbringen, ihre Zweifel ausschweifend zu zelebrieren.

Ist der Gipfel erreicht, geht T nicht mehr ans Telefon, ignoriert die Türklingel, liegt den ganzen Tag schweigend vor dem Fernseher, auf dem Sofa, alleine, in ihre Decke gehüllt. Wenn sie nicht schläft, knistern Unmengen von Tüten und T stopft wahllos und ohne zu kauen alles in sich rein, was sie greifen kann. Sieht nach Entspannung aus. Ist es aber nicht. Im Gegenteil. Bedauerlicherweise genießt T diese Auszeiten von der Welt nicht, sondern wird zunehmend übellauniger. Mein Leben ist ein Drama, sagt sie irgendwann und glaubt fest daran. Während sie dieses Mantra murmelt, zerknüllt T weiche, weiße Tücher und drapiert sie zu einem überaus eindrucksvollen Berg vor dem Sofa. Und scheint zu vergessen, dass ich Hunderunden brauche. Ach, was heißt schon brauchen? Anpassungsfähig wie ich bin, reicht mir für diese paar Quiz-Tage auch der Garten. Wichtig ist nur, in T’s Nähe zu sein. T liegt dann also auf dem Sofa, ich in meinem Körbchen in unmittelbarer Nähe und gemeinsam warten wir darauf, dass T’s Identitätskrise sich verdünnisiert.

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Apropos Identität und so. Bis heute höre ich ja immer wieder: Oh, guck mal, eine kleine Kuh. T’s beste Freundin BB nennt mich immer zärtlich das Kälbchen mit den Schlappohren. Weil ich BB sehr liebe, fast so sehr wie T, nehme ich es ihr auch nicht übel, wenn sie hallo, mein kleines Kalbsfleisch flötet, sobald wir uns treffen. T versichert mir jeden Tag, du bist der schönste Hund der Welt. Was interessiert mich da, was andere über mich denken? Obwohl … als Kuh bezeichnet zu werden, ist schon schwierig.

Seit mir diese Idee vor die Pfoten geschleudert wurde, möglicherweise kein Hund, sondern eine kleine Kuh zu sein, habe ich aber wenigstens eine ungefähre Vorstellung, wie T sich manchmal fühlen muss. Warum sie sich immer und immer wieder die 1-Million-Euro-Frage stellt – wer bin ich? – und die Antwort immer noch nicht weiß. Ungeklärt ist bis heute übrigens, welche Rolle es denn eigentlich spielt, wer man ist? Wie andere einen sehen? Sollte man nicht einfach nur glücklich sein? Egal, ob als Hund oder Pferd oder Kuh oder eben als Zweibeiner? Aber das mit dem Glücklichsein ist bei Zweibeinern ja bekanntlich eine fragile Angelegenheit.

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Lange fehlte mir das Verständnis für T’s immer wiederkehrende Identitätskrise. Inzwischen glaube ich sie begriffen zu haben. Wenigstens im Ansatz. Begonnen hat es damit, dass T mir erklärte, mein chinesisches Tierkreiszeichen sei Pferd; mein Element Feuer (das von T ist Metall) und ich sei Yin&Yang (T ist nur Yin). Ich dachte damals: Aha. Und? Denke ich immer noch. Auch wenn ich Astrologie- und Horoskopschnickschnack und Sternenkonstellationen durchaus spannend finde. Aber am Ende bin ich ein Hund. Nicht mehr, nicht weniger. Das scheint allerdings in den Augen einiger Zweibeiner zu wenig zu sein – einfach nur Hund. Warum reicht Zweibeinern eigentlich nie das, was ist? Warum brauchen sie immer eine zusätzliche Erklärung oder Umschreibung oder einen Vergleich?

Nehmen wir nur mal Dr. D aus unserer alten Heimat. Sie sagt jedes Mal, wenn wir sie besuchen: Milla ist muskulös wie ein Pferd und trabt genauso elegant. Das klingt wie ein Kompliment. Zumindest freut sich T immer, wenn Dr. D das sagt. Ich höre aber sowieso nur mit halbem Ohr zu, schiele auf das Keksglas auf dem Schrank. Und weil Dr. D nicht nur Vergleiche mag, sondern hin und wieder auch Gedanken lesen kann, steckt sie mir immer ein paar dieser köstlichen Knabbereien in Bienengröße zu. Wenn ich vorher brav auf der Waage saß. Wiege ich weniger als beim letzten Mal, gibt es noch einen Zusatzkeks. Wiege ich mehr, dann auch.

Ob Dr. D mein chinesisches Tierkreiszeichen eigentlich auch kennt? Als sie mich jedenfalls das erste Mal mit einem Pferd verglich, geriet ich in einen kurzen Konflikt, ob ich gar kein Hund, sondern ein zu klein geratener Gaul wäre.

Glücklicherweise gibt es einige Zossen, die mir ausgesprochen höflich und unvoreingenommen auf Nüsternebene begegnen. Zeno vom Ostmeer ist einer von ihnen. Als ich ihm bei einem unserer Urlaube in Kühlungsborn verriet, dass ich seine Hinterlassenschaften überaus schmackhaft finde und mich nur aufgrund der von T aufgestellten Spielregeln von ihnen fernhalte, wieherte er mich aus. Ein Pferd, erklärte Zeno vom Ostmeer mit geblähten Nüstern, würde niemals seine eigenen Pferdeäpfel fressen. Ich sei definitiv ein Hund. Damit war immerhin die beunruhigende Frage
bin-ich-möglicherweise-ein-zu-klein-gewachsenes-Pferd vom Tisch.

Anders verhielt und verhält es sich bis heute allerdings mit der Behauptung diverser Zweibeiner, ich sei eine kleine Kuh. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich in meinen besten Zeiten 38 Kilogramm wiege. Bei einer Schulterhöhe von 68 Zentimetern. Von klein kann also keine Rede sein. Wobei, im direkten Vergleich mit einer Kuh… Wie dem auch sei. Das Rätsel, warum vor allem die kleinen Zweibeiner bei meinem Anblick ausschließlich an Milchviecher denken, habe ich inzwischen zufriedenstellend gelöst.

Uhr - Abenteuer einer Hündin

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