Hündin Milla und Lucy

12:21:20 – Borstengefahr

Ich wollte Lucy hinterher rennen. Unbedingt. Aber als wohlerzogener Hund trippelte ich stattdessen nur nervös neben T auf der Stelle, Lucy im Blick, dieses kitzelnde Aroma in der Nase, als sich das Schilf plötzlich teilte. Ich sah, wie ein alter Baumstamm zum Leben erwachte. So was hatte ich noch nie gesehen. T offensichtlich schon. Und es schien sie zu beunruhigen. So sehr, dass sie aufhörte zu atmen. Und dann schüttelte der alte Baumstamm sich und eine massige Liebstöcklwolke waberte zu mir. Ich erblickte plötzlich braun-schwarze Borsten. Sah, wie Lucy auf diesem Borstenbaum leichtfüßig tänzelnd die Balance hielt. Spürte, wie T noch ein bisschen mehr erstarrte und nur noch durch die Nase winzige Luftpartikel einsog. Gefahr! Angriff! Verteidigung! T beschützen! All das schoss blitzend durch mein gewürzgeruchvernebeltes Hirn. Aber T ließ nicht zu, dass ich sie verteidigte, hielt mich an meinem Nackenfell fest. Du bleibst, zischte es aus ihrem Mund. Ehrlich gesagt, ich war schon auch erleichtert, dass T mich daran hinderte, meinem Instinkt zu folgen.
Unterdessen beschimpfte Lucy das schwankende, grunzen Schilf in frecher Fröhlichkeit als faules Schwein. Ich fühlte mich trotz der offensichtlichen Angst von T (und meiner eigenen) genötigt, Lucy wenigstens verbal zu unterstützen. Kam aber nur bis zu Hey, du faules… Da hielt mir T auch schon die Schnauze zu. Ihre Stimme war ganz winzig: Oh Gott, verdammt, Milla, sei bloß still. Kein Ton. Ruhe. Sei ja ruhig. Das ist —- ein Wildschwein.
Als anerkanntes Fressschwein horchte ich neugierig auf. Was war ein Wildschwein? Eine wildere Form vom Fressschwein? Gab es also Ähnlichkeiten zwischen mir und ihm? Wie groß waren die Unterschiede? Ohne vorzugreifen: Die Unterschiede sind gewaltig. Beängstigend gewaltig. Genauer gesagt: Es gibt überhaupt keinerlei Ähnlichkeiten. Abgesehen von der Anzahl der Beine, Augen und Ohren, natürlich.
Ich beobachtete jetzt fasziniert (T zunehmend panisch), wie Lucy um den schilfigen Faulenzer elegant herumhüpfte, bis der sich aus der schützenswerten Uferbegrünung heraus gepellt hatte und in seiner ganzen beunruhigenden Borstenpracht präsentierte. So viel ist klar: Ein unsanft gewecktes Wildschwein spielt nicht Fangen. Es sinnt auf Rache. Was aber für Lucy keinen Unterschied bedeutet – solange der Koloss nur hinter ihr her galoppiert. Für einen Moment (und zum ersten und letzten Mal in meinem Leben) sah ich in Wildschweinaugen. Die übrigens überraschend winzig sind. Winzig und dabei alles andere als freundlich. Schlagartig verwandelte sich meine neugierige Faszination in unruhigen Respekt. Ok, in Angst. Ich trat ein paar Schritte zurück, presste mich gegen T’s Bein, während Lucy in die andere Richtung trippelte und rief: Fang mich doch, fang mich doch! Gleichzeitig flüsterte T nur: Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Romanautorin Tina Gorf

Ich lernte an diesem Tag: Wenn T dieses Wort in dieser Leisestärke so schnell hintereinander wiederholt, dann ist sie besorgt. Sehr besorgt. Und ängstlich und ratlos. Und eigentlich braucht sie Hilfe. Zweibeinerhilfe. Dringend. Aber niemand war da. Niemand kam. Und T wusste nicht, dass Zweibeiner nur in die Hände klatschten oder laut rufen oder in eine Trillerpfeife pusten müssen, um ein Wildschwein zu vertreiben. Das hat ihr erst Jahre später ein Jäger erzählt. An einem dämmerigen Winternachmittag, als T glaubte, wir hätten ein Wildschwein aufgescheucht, klatschte sie sehr laut in die Hände. Eine Trillerpfeife hatte sie nicht dabei. Gerufen hat sie auch nichts. Nur geflüstert: Wildschweinalarm, Milla. Los, ab nach Hause. L e i s e! Ganz, ganz leise! Und dann sind wir losgerannt. Weg von der wildsäuischen Bedrohung, raus aus dem Waldstück. Hätten wir das nur an diesem Tag gewusst. Haben wir aber nicht.
Also wurde T vor Angst ganz steinern. Dagegen hopste und hüpfte Lucy an diesem sonnigen Nachmittag tollkühn hin und her, während T und ich nur hilflos zugucken konnten, wie die wütende Wildsau wild wogend durch das Schilf pflügte, um Lucy ihren Fang-mich-doch-Wunsch zu erfüllen. Alles bebte. Der Boden, T und ja, auch ich. Von Lucy war plötzlich nur noch die Schwanzspitze zu sehen. Ihre frechen Rufe vermischten sich mit dem Rascheln der Blätter und dem Wasser, das gegen das Ufer und im Schilf plätscherte. Verstummten schließlich. Das grauenhafte Grunzen, das nichts Gutes verhieß, wurde dumpfer und immer leiser. Schließlich flankte Lucy über den Zaun, die Wildsau rannte am Ufer entlang – dann verschluckten das Schilf und der Wald beide endgültig.
T sah mich entsetzt an, ihre Hand schwer auf meinem Kopf: Und jetzt? Ich war immer noch für verfolgen. T definitiv nicht. Als Chef hat sie das letzte Wort. Immer. Das hieß in diesem Fall ohne Diskussion: Warten. Also blieben wir stehen. Und warteten. Warteten. Warteten. Lauschten. Dem Flüstern und Singen der Blätter. Dem Plätschern des Wassers. Wir schwiegen. Und warteten.
T hatte offenbar ihre Stimme verschluckt – sie rief kein einziges Mal mehr nach Lucy. Also hielt auch ich die Schnauze. T tippte auf ihrem Handy herum, sprach aber mit niemandem, sondern steckte es wieder ein. Wurde unruhig und unruhiger, trat auf der Stelle, wie sie es im Winter tut, wenn sie jemanden auf der Straße trifft und redet, obwohl wir eigentlich schon längst wieder auf dem Sofa unter und auf der Decke liegen wollen.
Wir warteten. T seufzte. Schimpfte sehr leise. Ging ein paar Schritte vor, dann wieder zurück. Ich folgte ihr in beide Richtungen. Von Lucy kein Bild, kein Ton. Schließlich legte ich mich ins Laub. Rumstehen ermüdet mich. Ins Wasser durfte ich nicht. Also wartete ich liegend. Denn soviel war klar: Ohne Lucy würden wir nicht nach Hause gehen. Das Liebstöcklaroma hing nur noch schwach in der Luft.

Hündin Milla und Lucy

Natürlich kam Lucy irgendwann aus der entgegengesetzten Fluchtrichtung den Hang heruntergetobt. Übermütig, keinen Hauch schuldbewusst, kaum außer Atem. Gewonnen, verkündete sie, wie immer. Sie erwartete dafür ernsthaft ein Lob von T. Wenigstens ein kleines. Oder zumindest einen erleichterten Seufzer. Aber T leinte Lucy wortlos und mit dunklen Steinaugen an. Wortlos ging es auch zurück nach Hause. Lucy wunderte sich nicht über T (Zweibeiner sind nun mal ängstlich und deswegen nachtragend), wohl aber über mich. Schließlich hatte sie uns das perfekte Abenteuer, mir eine großartige Mutprobe organisiert. An T vorbei. Quasi von langer Pfote vorbereitet. Und ich hatte den Schwanz eingezogen. Lucy hat mir das nie vorgeworfen. Und nie wieder etwas ähnliches versucht. Wie auch – bei allen nachfolgenden Spaziergängen mit T musste Lucy wieder an die Leine.

Copyright Tina Gorf