Roman Millas Blick

12:21:00 – Wildschweinmutprobe

Inzwischen bin ich wirklich zu müde, um die Augen zu öffnen, wenn ich glaube, T’s Stimme zu hören. So wie jetzt. Sie streift mich, weich und sanft ist es mehr ein Gefühl als ein Geräusch. Mir fehlt die Kraft, alle Viere zu strecken, mit der Rute auf den Boden zu klopfen, um T zu signalisieren, dass es mir gut geht, ich aufmerksam ihren Sätzen lausche. Es zumindest versuche. Wird sie es merken? Wird es weh tun?, flüstert T von sehr weit weg. Die Worte verlieren sich wie ein flüchtiger Geruch. Eine zweite Stimme, ruhig und genauso leise, mischt sich hinein, schwebt über mich hinweg: Nein. Durch das Valium ist sie sediert, spürt weder Schmerzen noch Angst. Ihr Herz schlägt schon sehr langsam. Das Barbiturat werde ich ihr auch intramuskulär geben können. Es ist eine bekannte, irgendwie vertraute Stimme, nicht mehr als ein Hauch von Etwas, was ich mal gekannt habe. Aber in meinem kleinen Köterhirn ist kein Duft gespeichert, finde ich kein Gesicht zu der Stimme. Mit Valium und Barbiturat kann ich nichts anfangen. Es klingt weder lecker noch unlecker. Es interessiert mich auch nicht. Wenn ich es bekommen soll, bin ich damit einverstanden, solange nur T es auch ist.

Ich spüre keinen Drang mehr, gegen meine Trägheit anzukämpfen, kuschle mich behaglich in die Schwerelosigkeit und träume. Von wilden Borstentieren.

*

Viele Zweibeiner glauben, ich hätte den Jagdtrieb meines Dalmatiner-Vaters geerbt. Und sind erstaunt, wenn T behauptet, dass ich nicht mal eine Katze bemerke, wenn sie zwei Meter vor mir sitzt. Was so nicht stimmt. Natürlich registriere ich jedes Mal den arroganten Anwaltstiger, die einäugige Rot-Weiße, das übermütige, junge, graue Ding mit dem weißen Fleck auf der Brust, den getigerten Rüpel und überhaupt alle Katzen in unserer Nachbarschaft. Jede Einzelne. Aber warum sollte ich mir die Mühe machen, sie auf den nächsten Baum, hinter den nächsten Zaun zu jagen? Sie sind doch sowieso schneller als ich. Also tue ich so, als würde es mich nicht die Spur in den Pfoten jucken, sie ein kleines bisschen außer Atem zu bringen. Im Gegensatz zu Bonita und Zoé. Die lieben es zu jagen. Katzen. Hasen. Mich.

Meine Siberian Husky-Freundin Lucy gehört ebenfalls zur Kategorie ich-jage-alles-was-ich-rieche. Dabei ist sie genauso wenig Jagdhund wie ich. Weiß sie aber nicht. Oder interessiert sie nicht. Und obwohl T und Lucy sich sehr mögen, sagt T immer: Lucy, du kostest mich an einem Nachmittag mehr Nerven als Milla im ganzen Jahr. Lucy nimmt das als Kompliment und blinzelt unschuldig aus ihren wirklich sehr schönen See-Augen zu ihren Zweibeinerinnen N&C. Die haben gesagt: Luce-Luce hat leider vor nichts Respekt. Nimm sie unbedingt an die Leine, wenn ihr spazieren geht.

Roman Millas Blick

Hat T getan. Was weder Lucy noch mir gefallen hat. Denn selbst eine zehn Meter lange Schleppleine ist am Ende – eine Leine. Deswegen waren die Spaziergänge mit Lucy auch nie das, was ich mir erhofft hatte: Uns gegenseitig durch das Laub jagen, die Hügel rauf und runter, um die Bäume herum, um sich dann hechelnd ins Wasser zu stürzen. Aber Lucy ist nicht nur furchtlos und hübsch, sondern auch schlau. Sie hat T solange mit aufmerksamer Folgsamkeit beeindruckt, bis T geglaubt hat, Lucy würde genauso aufs Wort hören wie ich. Tja, Lucy kann eben nicht nur auf Kommando eine Waschmaschine befüllen, alle möglichen Haushaltsgegenstände nach Aufforderung apportieren, sondern auch eine kluge Zweibeinerin wie T überlisten.

*

Es war ein bunter Herbsttag. Noch warm genug, um Stöckchen aus dem Wasser retten zu dürfen. Ich hatte das ein paar Mal erfolgreich getan, während Lucy an der Leine mir dabei zusah. Als T – viel zu früh, wie immer – mein Vergnügen für beendet erklärte. Und zu meiner freudigen Überraschung Lucy frei ließ. Wir jagten uns durch das knisternde Laub, die Hügel rauf und runter, um die Bäume herum. So wie wir uns das immer gewünscht hatten. Alles war perfekt. Bis Lucy plötzlich sehr elegant über einen dünndrähtigen Zaun segelte, direkt rein ins raschelnde Schilf. Ins absolut verbotene Areal.

Das ist ein geschützter Uferstreifen, hatte T schon bei unserem allerersten Spaziergang durch den Wald entlang des Griebnitzsees erklärt, also raus da. Wusste Lucy offensichtlich nicht. Oder hat sie, wie so vieles, einfach nicht interessiert. Vielleicht, schlussfolgerte ich, während ich Lucy für ihre Schwerelosigkeit bewunderte, ist das Verbot ja aufgehoben. Also setzte auch ich zum Sprung an. Aber T sagte streng: Nein! Das reicht normalerweise, um mich in meiner Neugierde oder meinem Bewegungsdrang zu stoppen. Hätte es in diesem Moment auch. Was T allerdings zu bezweifeln schien, denn sie setzte ein vollkommen überflüssiges: Halt! MILLA! hinzu. Mit Bedauern und zugegebenermaßen widerwillig stoppte ich schon beim nein und schaute vorbeugend schuldbewusst als T meinen Namen so energisch aussprach.

Milla im Herbst

Und was tat Lucy? Tanzte derweil unbeeindruckt durch das verbotene Areal. T rief: Lucy! HIER! HIIIIIIEEEEER! Und weil Lucy nicht hörte, noch ein bisschen lauter und strenger: L-U-C-Y! Aber Lucy kann ihre spitzen, weichen Ohren wunderbar auf Durchzug stellen. Selbst als T viel freundlicher und geduldiger rief als sie roch, hüpfte Lucy unbeeindruckt durch die Binsen und lockte lauthals: Hey, aufwachen! Komm schon! Fang mich! Versuch mich doch zu kriegen.

Mir war neu, dass Schilf nicht nur raschelt, sondern auch grummelig grantelt. Und zwar sehr dunkel und bedrohlich. Um nicht zu sagen: tief verärgert. Dieses Geräusch ließ T zusammenzucken. Ihr Verdammt noch mal, LUCY! BITTE, klang jetzt verzweifelt. Was mich irritierte. Ich wusste schließlich, dass sich Lucy (im Gegensatz zu Zoé) niemals verirrt – und keine Angst vor nichts hat. Sich ihretwegen Sorgen zu machen ist mehr als überflüssig. Ich tat ein paar vorsichtige Schritte vorwärts, streckte aufmerksam die Nase in die Luft. Schnüffelte angestrengt. Da. Ein erdiger Geruch, scharf und würzig. Liebstöckl, schoss es mir durch den Kopf. Das wächst nämlich in T’s hölzernem Hochbeet. Ist genauso würzig wie Maggi, aber ohne blöde künstliche Zusatzstoffe, hat T mir erklärt, während sie die kleine Pflanze eingebuddelt hat. Ich kenne Maggi nicht, wir haben sowas nicht im Gewürzschrank, aber beim Geruch von Liebstöckl sträuben sich mir buchstäblich die Nackenhaare. Dieser aufdringliche Duft löst in mir meinen eigentlich nicht vorhandenen Jagdtrieb aus.