Am Tag unserer Abreise stiegen wir nicht in unser Auto, sondern fuhren mit der S-Bahn. Zum Berliner Hauptbahnhof. Jeder, der da schon mal hin musste, weiß, dass der trotz seiner Weitläufigkeit kein artgerechtes Auslaufgebiet ist. Unübersichtlich, verwirrend groß und glatt, überladen mit einem beißenden Geruchsmischmasch. Dazu undefinierbare, erschreckende, irritierende Geräusche, die es einem unmöglich machen, sich zu konzentrieren oder gar zu orientieren. Wer mit seinem Zweibeiner zum Hauptbahnhof will oder muss, sollte unbedingt darauf bestehen, an die kurze Leine genommen zu werden.
Und erst im Zug! Kein Vergnügen! Da hektiken viel zu viele Zweibeiner rum, die aufdringlich riechen; aufdringlich laut reden; empörend aufdringlich Duftendes essen. Enge Gänge, durch die Tische und Koffer und Kinderwagen rollen. Wenn man kein Handtaschenhund ist, liegt oder sitzt oder steht man ständig im Weg. Es sei denn – man ist mit T unterwegs. Gut, gegen das Hauptbahnhofschaos kann sie auch nichts machen. Aber: T kauft mir für den Zug immer die perfekte, sichere Übersicht. Weil: Wenn die mich schon die Hälfte vom Fahrpreis für dich zahlen lassen, dann kriegst du auch einen eigenen Platz am Fenster.
Fein ist so ein Zugfensterplatz. Nicht, weil die Welt so schnell an mir vorbei fliegt, dass ich keine Details erkennen kann. Nein. Weil es immer einen Zweibeiner gibt, der T davon überzeugen kann, dass ich eine Belohnung brauche. Dafür, dass ich so aufrecht in meinem Sitz ausharre, so lieb gucke, nie auch nur einen Beller von mir gebe, bis alles überstanden ist.
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Als wir also auf dem Berliner Hauptbahnhof ankamen, rechnete ich fest damit, dass T im ICE meinen Körbchenersatz (das große gelbgrüne Handtuch) auf einem Sitz am Fenster ausbreiten würde. Doch stattdessen öffnete T direkt nach dem Einsteigen eine gläserne Schiebetür zu einem leeren Abteil, zog die Gardinen zu und sagte: Gehört die nächsten Stunden alles uns. Sie überließ mir die freie Wahl zwischen den sechs Sitzen. Natürlich entschied ich mich ohne Zögern erst mal für den obligatorischen Fensterplatz. T hatte schließlich dafür bezahlt. Als mir aber klar wurde, dass diese Zugfahrt länger dauern würde, machte ich es mir auf dem Boden zu T’s Füßen gemütlich. Ausgestreckt liegend reist es sich nun mal am bequemsten. Und der absolute Vorteil: Man steigt am Ende zwar etwas steif, aber eben nicht steif gefroren aus.
Wir hatten also das Abteil für uns. T las, ich schlief. Dann mussten wir umsteigen. Wieder hatten wir ein Abteil nur für uns. Bis irgendwann ein junger, sehr langer und dünner Zweibeiner mit runder Brille und großem Rucksack unsere Tür aufschob. Er fragte, ob er bei uns bleiben dürfte. Wenn du keine Angst vor Milla hast, hat T gesagt und ich fand das sehr elegant, wie sie seine Frage beantwortete und mich gleichzeitig vorstellte. Der Zweibeiner hielt mir seine Hand hin. Hi, Milla, ich bin R, sagte er und ich schnüffelte höflich an seinen Fingern. R bewegte sich langsam, gab mir Zeit, seine Erschöpfung zu riechen. Die muss T auch bemerkt haben. Normalerweise schlüpft sie nämlich gerne in ihre Journalistenrolle. In der drängt sie anderen ein Gespräch auf, weil sie Stille zwischen sich und ihrem fremden Gegenüber für verschwendete Lebenszeit hält. Obwohl Rucksack-R ihr spürbar sympathisch war, bombardierte sie ihn nur mit einer kurzen, knackigen Fragensalve. Und der antwortete freundlich und so wussten wir schließlich: Rucksack-R war Student (Medizin), wollte seine Freundin (J, auch Studentin, Kunst) in Basel besuchen und dann mit ihr nach Italien reisen. Danach schwieg er. Ich wurde müde und kletterte zurück auf den Boden. T breitete meinen Reisehandtuchkörbchenersatz aus. Ich rollte mich darauf zusammen. Als ich plötzlich sah, wie Rucksack-R eine Decke unter das Fenster – auf den Boden!? – legte. Ist das ok?, fragte er und T zog mein Handtuch ein bisschen näher zu ihren Füßen: Klar, kein Thema. Und dann? Dann lag ich für den Rest unserer Reise Schnauze an Nase mit Rucksack-R auf dem Boden. Der übrigens sofort einschlief und sich bis Basel keinen Millimeter bewegt hat.