Milla ist alles, nur nicht aggressiv, sagt T, wenn jemand in ängstlichem Respekt erst mal Abstand zu uns hält. Dass T mich für gutmütig, sanft, freundlich, klug und zwischendurch auch albern hält, steht mir zwar nicht aufs Fell gepinselt. Bin es trotzdem. Alles, nur nicht aggressiv verpflichtet mich allerdings auch zu höflicher, ergebener Duldsamkeit. Theoretisch kein Problem. Praktisch schon. Vor allem, wenn ich eigentlich ganz andere Pläne habe. Und ganz besonders, wenn mich Zweibeiner mit ihrem Nachwuchs entdecken. Oh, guck mal, eine kleine Kuh, heißt es dann. Natürlich. Und als nächstes: Darf man den denn auch mal streicheln? Warum sagt T eigentlich nie nein? T sagt immer: Ja, klar, gerne. Und klingt erfreut. Im nächsten Moment lässt sie mich platz machen – damit ich nicht so riesig erscheine. T hockt sich vorsorglich neben mich, legt ihre Hand auf meinen Rücken, streichelt mir über den Kopf. Ich bin nicht sicher, ob sie es tut, damit ich nicht einfach flüchte, wenn es mir zu lange dauert. Oder um mich zu beruhigen. So oder so: Es bedeutet, dass ich alles, was dann kommt, mit stoischer Geduld über mich ergehen lasse. Lassen muss.
Die fremden Zweibeiner falten sich dann nämlich auch zusammen, ihre Zweibeinerwelpen zwischen den Knien, und fordern sanft: Ei! Ei! Mach ei. Und dann stolpert so ein Zweibeinerwinzling wankend mit ausgestreckten Händchen auf mich zu und plappert den Blödsinn nach: Ei! Ei! Ich mag entfernte Ähnlichkeit mit einem Kälbchen haben – aber mit einem Huhn!? Das ist nun wirklich absurd.
Zu allem Überfluss bohrt der Zweibeinewelpe mir seine winzigen Finger in die Nase. Zieht mich am Ohr oder der Rute oder krallt sich in meinem Fell fest. Oder tatscht mir auf den Rücken, um dann auf mich zu fallen. Die ganz Mutigen schlingen sogar beide Arme um meinen Hals und kuscheln ihren kleinen Kopf an mich. Ich halte still. Egal, was passiert. Ich. Halte. Still. Weil es T glücklich macht, dass niemand weint oder auf den Arm gerissen wird oder brüllt: Warum ist der Scheißköter nicht an der Leine?! Oder wahlweise fordert: Dein Drecksvieh gehört angeleint!
Scheißköter und Drecksvieh sind übrigens Schlüsselworte. Quasi der Code, der T unter Garantie die Kontrolle über ihre Stimme und ihr freundliches Wesen verlieren lässt. Ihre Stimme klingt dann kalt und laut und ich ziehe prophylaktisch den Kopf ein. T hat sich mehr als einmal so dicht vor einen Zweibeiner gestellt, dass ihre und seine Nase sich beinahe berührt haben. Geht’s noch?, schnappte sie. Das ist kein Scheißköter. Ich nenne dich ja auch nicht Arschloch, oder? Die Zweibeiner, die das mitbekamen, zogen die Köpfe ein. Genauso wie der Schimpfer, der schweigend weiterging.
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Dieser Moment, T Nase an Nase mit pöbelnden Hundehassern, die übrigens fast alle mit großen Augen verstummen, geschieht immer dann, wenn T glaubt, mich verteidigen zu müssen. Muss sie gar nicht. Das, was fremde Zweibeiner über mich sagen, interessiert mich so viel wie das Wetter von gestern. Aber T schafft es einfach nicht, alles außer aggressiv zu sein. Sie nennt solche Zweibeiner dann Schwachköpfe, Idioten, Wichser oder Arschgeigen. Gerne nutzt sie zusätzlich noch dämlicher oder blöder oder bescheuerter oder dummes.
Bei einem dieser Ausbrüche war T’s bester Freund, den sie Onkel A nennt, obwohl er gar nicht mit ihr verwandt ist, mal Zeuge. Ein Zweibeiner, der schon von weitem unzufrieden roch, pampte: Hunde gehören an die Leine. T sagte: Das hier ist ein Hundeauslaufgebiet, kein Hund muss an die Leine. Der Zweibeiner war genauso auf Krawall gebürstet wie T und knurrte: Diese Scheißköter kacken überall hin. Die gehören alle erschossen. Ich verstand nicht genau, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, und ging einfach weiter. Ich bin immer für Deeskalation. Onkel A auch. T nicht so. T sagt nämlich gerne: Warum sachlich, wenn es auch emotional geht? Und emotional geht bei T immer.
Jedenfalls, Onkel A beobachtete stumm und mit großen Augen T bei ihrer verbalen Explosion (die ich an dieser Stelle nicht wortwörtlich wiedergebe, weil sie auch T nicht gerade ins beste Licht rückt), sah zu mir, schüttelte den Kopf und ging weiter. Ich spürte, wie T’s Herz schneller klopfte, während sie mir und Onkel A folgte, sich dann noch mal umdrehte und dem Zweibeiner nachrief: Fick dich doch, du Arschloch. Das war dann wohl für Onkel A doch ein bisschen zuviel. Frau G!, sagte er streng und T sagte wütend: Was denn? Ist doch wahr. Die Welt ist voll von solchen Schwachköpfen.
Weil Onkel A keinen Hund hat und Begegnungen mit Zweibeinern dieser Art nicht kennt, war er natürlich sehr befremdet. T hat versucht zu erklären, dass sie nichts dagegen tun kann, wenn jemand so bescheuert reagiert! Es sieht doch ein Blinder, dass Milla der freundlichste und ungefährlichste Hund der Welt ist. Sieht Onkel A eigentlich auch so. Weil er gucken kann. Und weil er mich kennt. Er lässt mich ja sogar auf seinem Schoß sitzen und umarmt mich. Trotzdem war er nicht einverstanden mit T’s Ausbruch. Sehr geduldig hat er T versucht zu erklären, dass es nun mal ängstliche oder eben auch dämliche Zweibeiner gibt. Was aber nicht bedeuten könne, dass T sich auf deren Niveau begibt. Er fand ihr Verhalten absolut daneben. Worauf T’s Augen zu schwimmen begannen. Ich ertrage diese ganze Blödheit und Ignoranz einfach nicht mehr, hat sie gesagt. Ich fühle mich dann immer persönlich angegriffen. Und Onkel A hat erst geseufzt und dann gesagt: Frau G, du musst wirklich ruhiger werden und vor allem nicht immer alles so persönlich nehmen. Tut T trotzdem. Vieles bis alles persönlich nehmen. Obwohl sie weiß, dass Onkel A recht hat.
Mir ist es übrigens egal, dass T manchmal das ist, was ich normalerweise nie bin. Genau genommen beneide ich sie für ihre wilden Entrüstungsanfälle. Denn auch wenn es mich eigentlich wirklich nicht interessiert, was Fremde über mich sagen, es juckt mir schon manchmal sehr in den Pfoten, nicht nicht aggressiv zu reagieren. Aber ich kann eben auch nicht aus meinem Fell.