23 Monate später

Wie lang sind 27 Minuten? Gemessen an einem ganzen Leben sind sie nichts. Und doch können sie ein ganzes Leben sein. Von der ersten Spritze an blieben 27 Minuten, bevor Millas Herz aufgehört hat zu schlagen. Die längsten und zugleich kürzesten Minuten meines Lebens. Als Milla nicht mehr atmete, habe ich der Küchenuhr das Ticken verboten, eine cremefarbene Kerze entzündet. Sie brannte Tag und Nacht. Für drei Wochen. Vielleicht waren es vier oder auch sechs, ich weiß es nicht mehr. Mit Millas Tod blieb buchstäblich die Zeit stehen. * Der Tod ist absehbar – vom Tag der Geburt. Das habe ich mir in der Sekunde klar gemacht, als ich das kleine, dicke, tapsige Bündel in mein Leben holte. Sich etwas klar machen, bedeutet nicht, dass man wirklich begreift, was es bedeutet, wie es sich anfühlt. Doch es war eine Art Schutz. Der am Ende nicht geholfen hat. Ich habe Milla damals das Versprechen in die … Weiterlesen..

12:26:00 – Abschied

Träume ich? Oder ist das T’s Hand, die mich streichelt? Da. Das war doch etwa Feuchtes auf meiner Nase. Fällt wieder Salz aus T’s Augen? Meine Lider sind schwer, wollen sich nicht öffnen. Ich atme flach und langsam und gleichmäßig. Mit langen Pausen. Meine Lefzen beben nur leicht. Küsst mich T gerade? Streichelt sie mich? Ja. Ja, T ist bei mir. Ich spüre ihren Atem, der so vertraut riecht, ihre warme Schmetterlingshand bedeckt mein Auge. Etwas rundes, kühles drückt leicht gegen mein Herz. Wandert ein Stück, verschwindet. Jetzt? Ist das T’s Stimme? Ja. Ihre Stimme, egal wie leise oder wie weit entfernt, T’s Stimme erkenne ich immer. Sie lässt ihre Hand auf meinem Gesicht, ihre trockene Nase liegt neben meiner. Jetzt rieche ich das Salz ihrer Augen. Spüre T’s Zittern, ihr Herz, das klopft, als wären wir gemeinsam über eine riesige Wiese gelaufen. Ich möchte T noch einmal anschauen. Doch ich gestatte mir, die Augen nicht … Weiterlesen..

12:25:55 – Wolkenthron

Dieses letzte Weihnachten war anders. Öpa wollte nicht wie all die Jahren sonst mit T vierhändig in die Tasten hauen. Er war zu müde und saß auf seinem Sofaplatz, mit dem Rücken zum Fenster und Blick auf den leuchtenden Tannenbaum. Geredet hat er kaum. Überhaupt war es nicht so lustig wie früher. Öpa hat zwar gelächelt, aber seine Augen waren müde und seltsam leer. Alle haben versucht, Öpa aufzuheitern, aber so richtig hat das nicht geklappt. Als es plötzlich klingelte und eine Freundin von C und T mit ihrer Zweibeinerenkelin ins Wohnzimmer stolperte, wurde es sehr laut. Denn die kleine Zweibeinerin plapperte die ganze Zeit und wollte unbedingt mit mir spielen. T’s Gedanken waren meine: Das ist mir alles zu viel. Zu laut. Ich roch T’s unterdrückte Ungeduld. Du, lass mal die Milla bitte in Ruhe. Die ist alt und mag das nicht, hat T zu dem Zweinbeinerwinzling gesagt. Dabei hat T zu Öpa geguckt, … Weiterlesen..

12:25:31 – Weihnachtszeit

Kurz nach meinem Geburtstag steht immer das nächste kulinarische Highlight im Kalender. Gänse-Essen bei Freundin P in Berlin. Was für ein Spektakel! Onkel A und T bauen viele Tische und Bänke auf. P rennt im Haus die Treppen rauf und runter. Weil in ihrem Backofen nur eine von den vier Gänsen braten kann. Also brutzeln die anderen Viecher in den Öfen ihrer Nachbarn. Um mich herum nur hektischer Trubel. Aber einer muss ja Ruhe in diesem geordneten Chaos verbreiten. Und genau das ist mein Job an diesen Abenden. Ich liege in der Küche und kontrolliere, dass aus den breiten weißen Fladen viele gleichgroße Kugeln geformt und in riesige Töpfe gelegt, ganz viele Gläser mit rotem Kraut geöffnet und in einen anderen riesigen Topf geschüttet werden. Irgendwann ist der köstlichste Bratenduft der Welt überall. Das ist der Moment, wo die Unruhe bei den Zweibeinern ihren Höhepunkt erreicht. Es klingelt in einer Tour. Ich habe mir schnell … Weiterlesen..

12:25:00 – Geburtstagswürstchen

Ich spüre mein Herz kaum noch. Es schlägt so langsam und friedlich. Kein Vergleich zu dem wilden Wummern, als T und ich im Zelt Donner und Regen überstehen mussten. Oder wenn Silvester ist. Oder Autos am Filmset explodieren. Mein Herz pocht jetzt so sanft und sacht wie ein träger Schmetterling, der auf dem Sommerfliederstrauch sitzt. Ich weiß, T erwartet nichts von mir. Sie soll aber wissen, dass ich weiß, dass sie mich nicht allein lässt. Nie. Selbst jetzt, wo ich so schwer auf meiner Wolke ruhe und nichts mehr will. Ich öffne meine Augen und sehe T’s Gesicht. Blicke ihr in die Augen. Lasse meine Lefze ein winziges bisschen zucken. Es gibt da diese Stelle an meinem Bauch, wenn T mich da krault, dann verzieht sich meine Schnauze. T sagt dann immer fröhlich: Milla grinst. T weiß genau wie ich, dass Hunde nicht grinsen. Wir lachen ja nicht mal. Jedenfalls nicht wie Zweibeiner. T hat … Weiterlesen..

12:24:40 – Campinggefahren

Zelten mit Hund

Der Himmel war hellblau und leuchtete. Und während wir mit unserem Auto über einen ruckligen Weg holperten, hat T mir von ihrer Kindheit am Ederseeerzählt. Im hessischen Fürstental. Da hat sie schwimmen gelernt, segeln, surfen und paddeln. Sie hat Pilze gesucht; wilde Himbeeren an Feldrändern gepflückt; ist durch den Wald ins nächste Dorf gelaufen und hat Milch vom Bauern geholt. Abends hat sie mit ihrer Schwester C und vielen anderen kleinen und großen Zweibeinern am Lagerfeuer gesessen und die Mundorgelrauf und runter gesungen. Schaukel-Opa hat auf seiner Gitarre, Schaukel-Oma die Zitter gezupft. Wenn Vollmond war, hüpften alle vom Steg ins silbrige Wasser. Das schönste war aber, dass wir Kinder nicht bei unseren Eltern im Wohnwagen schlafen mussten, sondern unser eigenes Zelt hatten, hat T gesagt. Ich liebe das Geräusch vom Zeltreißverschluss. Es ist eines der schönsten Geräusche der Welt. Als sie das gesagt hat, ist ihr Gesicht weich geworden und ihre Augen haben geglitzert. Jetzt … Weiterlesen..

12:24.31 – Schleifenzwang

Unsere Reise dauerte nicht lang genug für einen Pinkelpausenstopp. Dafür verschlang die Suche nach dem Ziel fast genauso viel Zeit wie unsere gesamte Fahrt. Denn T verweigert nach all den Jahren des regelmäßigen Verfahrens immer noch ein Navi. Sie hat mal was von NSA, Kontrolleund ausspionierengesagt. Weil T also unter einem gewissen Verfolgungswahn leidet, muss sie in eine altmodische Straßenkarte schauen. Was bekanntlich ja nicht ihre Stärke ist. Immer wieder hielt sie an, drehte die Karte hin und her und vor und zurück, fuhr mit dem Finger darüber, wackelte mit dem Kopf und murmelte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Fuhr auf eine Tankstelle, hielt dann noch mal an einer Apotheke und endlich standen wir auf einem Parkplatz. Geschafft,sagte T und klang erleichtert. Sie ließ mich aussteigen und ich war irritiert. Es gab keine Möwen. Die Luft roch nicht nach Salz, nur nach braunem Staub. Wir waren nicht am Ostmeer! Für einen Moment war ich … Weiterlesen..

12:24:00 – Reisevorbereitungslisten

mit Hund ans Meer

Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen planen und Listen schreiben? Oder gehören Listen zum Plan? Alles irritierend, zumal T nicht so gerne plant. Aber gut, wie schreibt nun mal gerne. Und wenn es nur untereinander gereihte Wörter sind. Wie dem auch sei: Wenn T anfängt mit dem Stift auf einem großen Blatt Papier herumzukritzeln, dann weiß ich, dass sie mal wieder eine Reise für uns plant. Meist ans Ostmeer. Bevor sie allerdings die Liste schreibt, löst T großen Putzalarm aus. Für den muss ich auf eine Hunderunde verzichten und werde in den Garten verbannt. Wenn alles überstanden und sauber ist, sitzt T verschwitzt am Tisch und notiert alles mögliche. Murmelt dabei vor sich hin. Kneift die Augen zusammen. Schaut an die Decke. Beißt den Stift. Ich liege derweil im Körbchen und fixiere T. Denn irgendwann wird sie mir ihre Liste vorlesen und dann fragen: Haben wir irgendwas Wichtiges vergessen? Fällt dir noch was ein? Mein … Weiterlesen..

12:23:31 – Leihoma

Roman Millas Blick

Nach ein paar Besuchen hat M-in-Klammern-90 dann also zu T gesagt: Ich bin dankbar, dass wir uns getroffen haben. Du bist für mich eine Ersatztochter. Da ist T ganz rosig geworden, hat die Hand von M-in-Klammern-90 gestreichelt und versprochen, immer für sie da zu sein. Das ist seit unserer ersten Begegnung auch so. Wir besuchen M-in-Klammern-90 fast so oft wie den Thüringer. Immer hat M-in-Klammern-90 Kekse für mich, Tee für T und Antworten auf die Fragen, die T nicht beantworten kann. Und nach jedem Besuch ist T glücklich, dass M-in-Klammern-90 in unserem Leben ist und freut sich auf das nächste Wiedersehen. Nur eins hat sich seit unserem ersten Treffen verändert: T nennt unsere Freundin mit den Wolkenhaaren jetzt M-in-Klammern-95. * Wenn T glücklich ist, tanzt sie. Wenn’s sein muss, auch ohne Musik. Oder zählt eins-zwei-drei-Pause-fünf-sechs-sieben. Geht dabei erst drei Schritte zurück, wartet kurz, und geht drei wieder vor. Manchmal dreht sie sich auch. An diesem … Weiterlesen..

12:23:19 – Adoptionsangebot

Hündin Milla

Sobald wir den Markt verlassen und T mir endlich die Leine abnimmt, bin ich eigentlich in Transportstimmung. Kann es kaum erwarten nach Hause zu kommen. Laufe mit meiner Beute vor. Drehe mich regelmäßig um, damit T nicht denkt, ich hätte sie vor lauter Vorfreude auf mein Schweineohr vergessen. An diesem Tag gab es aber eben keine Beute nach Hause zu schleppen. Deswegen ließ ich mich bestimmt auch ablenken. Von etwas ungewöhnlichem, das wie Zigarettenrauch sanft vor mir her züngelte. Nicht stinkend, sondern warm, weich und frisch. Ein plötzlich empor flammender Duft, der mich magisch anzog. Mit erhobener Nase versuchte ich ihn zu lokalisieren. Er schwebte immer näher und plötzlich wurde das verführerische Aroma zu einer Zweibeinerin mit wolkigen Sonnenhaaren. Augen wie das ruhige Meer im Sommer sahen mich direkt an und eine zarte Stimme sagte sanft: Oh, was für ein hübsches Tier. Ohne T um Erlaubnis zu fragen fuhr ich der Zweibeinerin vorsichtig mit meiner … Weiterlesen..