Wie lang sind 27 Minuten? Gemessen an einem ganzen Leben sind sie nichts. Und doch können sie ein ganzes Leben sein. Von der ersten Spritze an blieben 27 Minuten, bevor Millas Herz aufgehört hat zu schlagen. Die längsten und zugleich kürzesten Minuten meines Lebens. Als Milla nicht mehr atmete, habe ich der Küchenuhr das Ticken verboten, eine cremefarbene Kerze entzündet. Sie brannte Tag und Nacht. Für drei Wochen. Vielleicht waren es vier oder auch sechs, ich weiß es nicht mehr. Mit Millas Tod blieb buchstäblich die Zeit stehen.
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Der Tod ist absehbar – vom Tag der Geburt. Das habe ich mir in der Sekunde klar gemacht, als ich das kleine, dicke, tapsige Bündel in mein Leben holte. Sich etwas klar machen, bedeutet nicht, dass man wirklich begreift, was es bedeutet, wie es sich anfühlt. Doch es war eine Art Schutz. Der am Ende nicht geholfen hat.
Ich habe Milla damals das Versprechen in die Schnauze gelegt, dass sie mindestens 15 Jahre alt wird. Der Ausdruck meiner Angst vor dem Moment, wenn sie nicht mehr sein wird. In all unseren gemeinsamen Jahren kam diese Angst vor dem endgültigen Abschied immer wieder hoch. Das Wissen, dass die Liste der ersten Male schrumpfen, dass viel zu schnell alles zum letzten Mal geschehen würde. Ich habe mir mein Leben ohne Milla immer furchtbar vorgestellt. Leer, einsam, sinnlos. Die Realität war lange Zeit um etliches brutaler und furchtbarer.
Milla war mein erster Hund. Mein kleines Fressschwein, mein Puppylottenköter. Mein Ein und Alles. Dieses treue, kluge, lustige, sanfte, alberne Wesen gehen zu lassen, hat mich schier zerrissen. Der Schmerz über Millas Verlust kommt immer noch in Wellen. Die Abstände werden größer. Doch wann immer die Trauer auftaucht, ist sie kaum auszuhalten. Die Verzweiflung und der Schmerz beherrschen dann mein komplettes Fühlen und Denken. Und nicht nur in diesen Momenten würde ich alles geben, um mein Baby zurück zu bekommen.
Milla hat mir 13 Jahre und drei Monate geschenkt. Sie hätte noch länger durchgehalten, aus Liebe zu mir. Ich habe sie aus Liebe gehen lassen. Milla sollte in Würde sterben dürfen. Das habe ich mir an dem Tag geschworen, als Bauer G sie mir anvertraute. Ich war verantwortlich für Millas Leben – und deswegen auch für ihren Tod. Milla loszulassen, sie für immer gehen zu lassen, das war die schlimmste Entscheidung und größte Herausforderung meines Lebens. Ich hatte unbeschreibliche Angst. Und doch stand nie zur Diskussion mich vor dieser Verantwortung zu drücken. Sie bei einem Tierarzt abzuliefern und alleine sterben zu lassen.
Milla hat mir bedingungslos vertraut, war treu an meiner Seite und hat mein Leben unendlich und intensiv bereichert. Jeden Tag. Ihre uneingeschränkte und durch nichts zu erschütternde Liebe waren ein einmaliges Geschenk. Milla in den Tod zu begleiten war mein letzter Liebesbeweis.
Während ich diesen Text geschrieben, Fotos angesehen habe, gab es immer wieder unglaublich schmerzvolle Momente, in denen ich nur geweint habe: Ich will mein Baby zurück. Milla zu Bonita und Zoé, zu Tammie und Chila, zu Lucy, zu Finchen und all ihren anderen Weggefährten in den Hundehimmel zu schicken, habe ich nur mit Hilfe meiner wunderbaren Tierarztfreundin Dr. C treffen können. Sie hat mir all die Unterstützung geschenkt, die ich in meiner grenzenlosen Verzweiflung gebraucht habe. Dr. C hat mich getröstet, mir Mut gemacht, dass der Schmerz über den Verlust zwar immer bleiben wird. Dass er aber weniger, irgendwann nicht mehr alles beherrschen wird. Ich warte immer noch auf den Moment, in dem ich sagen kann: Dr. C hatte Recht.
Ich war fest davon ausgegangen, dass ich Milla einäschern lassen würde. Ich wollte ihr eine schöne Urne schenken und die sollte auf dem Klavier stehen. Oder dem Bücherschrank. Oder im Arbeitszimmer. Neun Stunden, nachdem Milla aufgehört hatte zu atmen, wusste ich: Ich möchte sie in der Mitte des Gartens begraben. Denn Milla war der Mittelpunkt meines Lebens.
Ich habe Milla in ihrer Sofadecke in die Erde gelegt. Sie auf Lorbeerblätter und Lavendelgras gebettet und damit zugedeckt. Heute ziert Millas Grab eine Sternmagnolie auf einem Blumenbeet, das ich mehrfach im Jahr frisch bepflanze. Auf dem Grab sitzt Bramble, mein irischer Hauself aus Stein, den ich in dem Jahr gekauft habe, als Milla und ich nach Potsdam zogen. Er hat all die Jahre auf einen festen Platz und seine Funktion warten müssen. Beides hat er nun.
Mich tröstet der Gedanke nicht, dass Milla jetzt auf Wolke sieben herumhüpft und womöglich ein tierisch tolles Leben führt. Vielleicht gibt es ein Leben danach. Vielleicht nicht. Für mich spielt das keine Rolle. Denn ich vermisse Milla. Jeden Tag. Doch ich gehöre zu den Menschen, die die Vorstellung tröstet, dass jeder Verlust – sei es ein geliebter Mensch oder ein geliebtes Tier – einen Sinn hat. Tatsächlich gibt es inzwischen mit Christan den perfekten Mann in meinem Leben, von dem ich sicher bin, dass Milla ihn mir geschickt hat. Dafür bin ich (ihr) unendlich dankbar.
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Millas Blick zu schreiben war ein emotionaler Kraftakt. Den ich dank liebevoller Unterstützung meines wundervollen Mannes stemmen konnte. Dass Millas Blick überhaupt zu lesen ist, verdanke ich auch meinem besten Freund, Onkel A. Er ertrug mein Gejammer über die beinahe 3 Jahre anhaltende Schreibblockade nicht mehr. Fang an zu schreiben – egal was. Hauptsache, du schreibst wieder. Und bring es vor allem zu einem Ende. Hab ich getan. Und bin froh, dass ich gezwungen war, mich an unendlich viele kleine Begegnungen, kostbare Momente und wertvolle Augenblicke aus 4470 gemeinsamen Milla-Tagen zu erinnern. Erinnern zu können.
Millas Blick habe ich geschrieben für Milla, den schönsten und besten Hund der Welt. Geschrieben für alle anderen wunderbaren Hunde, die unser Leben eine Zeitlang bunter machen und bereichern. Und für alle, die einen treuen Begleiter loslassen mussten oder noch loslassen müssen.