Mit Hund in der Schweiz

12:05:38 – Ohrtriangel

Was besonders spannend an ihren unberechenbaren Emotionseruptionen ist: T flippt aus, wenn andere die Ruhe behalten. Und umgekehrt. Wie damals, als wir bei T’s Schwester C zu Besuch waren, weil C ihren Geburtstag feiern wollte. Da hätte T allen Grund gehabt die Kontrolle zu verlieren und zu toben. Hat sie aber nicht.

C feiert ihre Geburtstage gerne groß. Mit Musik, viel Essen und Trinken und noch mehr Freunden. In diesem einen Jahr kamen sogar welche aus der Schweiz. Und die zwei Zweibeiner brachten ihre Pitpulldame Daisy mit. Klein, kompakt, kontaktscheu. Sie wollte nicht mit mir spielen. Oder durfte nicht. Jedenfalls hielten wir die ganze Zeit einige Hundelängen Abstand. Daisy lag auf der Holzterrasse. Ich plantschte durch den Bach, spielte mit den kleinen Zweibeinern Fußball, verbrannte mir am Grill beinahe die Nase, griff ein Stückchen Bratwurst ab, das jemand verloren hatte. Und vergaß, dass Daisy überhaupt da war.

Am nächsten Morgen lungerten wir alle müde von der Feier im Hof von C. Es war zu warm zum Spielen. Es war überhaupt zu warm für irgendwas. Ich lag entspannt auf der Seite, döste vor mich hin. Plötzlich galoppierte Daisy ungebremst auf den Hof. Stolperte dabei über mich. Ich erschrak. Riss den Kopf zur Seite – und spürte augenblicklich, dass mit meinem Ohr etwas nicht stimmen konnte. Es fühlte sich nicht mehr ganz an. Ich sprang auf. Daisy quietschte und prallte zurück, als wäre sie gegen eine Mauer gedonnert. T sprang auch auf. Ach du Scheiße, sagte sie. Wenn T in diesem Ton ach du Scheiße sagt, ist etwas passiert. Meist nichts Gutes.

Mit Hund in der Schweiz

Ich spürte, wie der untere Teil meines Ohrs heiß wurde und sah einen roten Tropfen auf den grauen Beton fallen. Und dann noch einen und noch einen und noch einen. Ich beugte den Kopf, hielt die Nase vorsichtig über die kleinen, nach Eisen riechenden Flecke. Daisy hat Milla das Ohr eingerissen, sagte T und ihre Stimme gehörte gar nicht zu ihr. Klang wie Beton. Weder kalt noch warm, nur hart. Das muss sofort genäht werden. C war reingelaufen und kam mit einem Handtuch wieder. T drückte es auf mein Ohr. Ich spürte ihr Zittern – oder zitterte ich? Ich wusste plötzlich nicht, wo ich war. Warum ich war, wo ich war. Stand einfach nur da. Als wäre ich aus Stein. Ich fahr zu Dr. D, sagte T mit dieser Stimme, die nicht zu ihr gehörte. Komm, Puppy. Ich folgte T. Ohne zu verstehen, warum die Zweibeiner plötzlich alle so laut waren. Warum die Schweizer Zweibeinerin weinte und Daisy vor Angst fiepte. Dann sah ich es aus dem Augenwinkel: Der Schweizer Zweibeiner drückte sein Knie auf Daisys Bauch und presste mit beiden Händen ihre Schnauze auf den Beton. Du dämliches Drecksvieh, hörte ich ihn noch bedrohlich knurren. Dann waren T und ich schon zum Tor raus.

*

 Will man von C zu Dr. D muss man nur durch die Grabengasse gehen. Vorbei an kleinen Obstgärten und an der Pferde-Koppel. Der Weg taugt gerade mal für eine ungehörig kurze Gute-Morgen-Runde. Trotzdem ließ T mich ins Auto steigen. Ich durfte sogar vorne neben ihr sitzen. T fuhr so schnell, wie sie sonst nie fährt, wenn rechts und links Häuser stehen. Noch immer tropfte es aus meinem Ohr. Es tropfte auch noch, als wir in die Praxis kamen. Dr. D war nicht da. Aber ihre Kollegin.

Dr. B riecht genau wie Dr. D nach tiefer Ruhe und Gelassenheit und Kompetenz. Wir durften direkt in ihr Behandlungszimmer. Ich hatte Dr. B erst einmal getroffen, und sofort beschlossen, dass sie mindestens so nett wie Dr. D ist. Dr. B faltete sich zusammen und nahm mein Ohr, aus dem es munter weitertropfte, sehr sanft in die Hand.

Ein akkurater Triangel, sagte Dr. B und streichelte meinen Kopf. Es muss erst etwas abschwellen, vorher kann ich nicht nähen. Kommt in zwei Stunden noch mal wieder. Dabei klebte mir Dr. B etwas auf und um das Ohr. Ist es gefährlich? Kann es sich entzünden?, fragte T und hörte sich an, als würde sie nicht genug Luft bekommen. Dr. B hat T beruhigt – es hätte so stark geblutet, dass keinerlei Bakterien mehr drin sein könnten. Aber, sagte Dr. B, während sie mir zwei Kekse schenkte, ich kann nicht versprechen, ob ich es retten kann. Es besteht die Gefahr, dass der untere Teil vom Ohr abstirbt. Ich schielte zum Keksglas. Dr. B verstand sofort und schenkte mir noch zwei.

Als wir im Auto saßen, versuchte ich das lästige Ding an meinem Ohr abzustreifen. Aber T schüttelte den Kopf, sagte: Nein, nicht, Puppy. Das Pflaster muss bleiben. Ich seufzte und rollte mich zusammen. Es dauerte nämlich noch eine ganze Weile, bevor T den Wagen startete. Vorher wurden ihre Augen erst ganz dunkel, dann ihre Wangen nass und ich roch das Salz.

 

Zurück bei C im Hof wurde ich von allen gestreichelt und ausgiebig bedauert und mit Lecker gefüttert. Daisy war nirgends zu sehen. Ihre Schweizer Zweibeinerin kam zu T mit einem hellen Pulver. Das hilft bei der Heilung, sagte sie. Weil das Pflaster von meinem Ohr abgefallen war, tupfte T mir was von dem braunen Staub auf meinen Triangel. Die kleine Schweizer Zweibeinerin mit ihren vielen bunten Bildern auf Armen, Beinen, Händen und am Hals sagte mit salziger Stimme: Ich habe kein Geld für  die Tierarztrechnung. Und Daisy ist nicht versichert.

Hat man keine, braucht man eine. Hat man eine, braucht man keine. Ich bin versichert. Ich kann einen Schaden von 1 Million Euro verursachen. Keine Ahnung wie, aber ich könnte. T hat mir den Zettel mal gezeigt und gesagt: Vermutlich rausgeschmissenes Geld, aber besser haben als brauchen. Wir haben meine Versicherung noch nie gebraucht.

Daisy war also nicht versichert, und T blieb trotzdem ganz ruhig und freundlich und hat kein bisschen die Kontrolle über ihre Stimme verloren. Im Gegenteil. T hat der Schweizer Zweibeinerin den Arm gestreichelt und gesagt: Schon ok, wir finden eine Lösung.

Die dann darin bestand, dass die Schweizer Zweibeiner und Daisy nach Hause gefahren sind, ohne sich je wieder bei T zu melden.

*

Zwei Stunden später waren wir wieder bei Dr. B. Eine weich duftende Zweibeinerin, die ich nicht kannte, hielt meinen Kopf und streichelte mich und versprach mir viele Kekse. Also hielt ich still. T durfte nicht zugucken, als Dr. B mein Ohr näh,e. Es tat kein bisschen weh. Es ist kein Stück abgefallen. Das hat sie wirklich schön gemacht, hat T viel später im Jahr gesagt, man sieht nicht mal mehr eine Narbe. T klang erleichtert. Seitdem streichelt sie diese Stelle am Ohr besonders zärtlich und drückt immer mal wieder ein Kuss drauf.

Als wir zurück von Dr. B kamen und Daisy angeleint unter der Terrasse liegen musste, sagte C: Du bist die Beste, Milla. Jeder andere Hund hätte eine wilde Beißerei angefangen. Dann hat C ein großes Glas mit vielen Würstchen hervorgezaubert und mir zwei geschenkt. T hat auch eins bekommen. Weil C froh war, dass T’s Nase nicht die von der Schweizer Zweibeinerin beinahe berührt hat.

Kapitel 5 Millas Blick

Schreibe einen Kommentar

*