Hündin Milla

12:17:00 – Horizonterweiterung

Reisen bildet. Es erweitert den Horizont. Sagt Öpa. Und fliegt seit Jahren rund um den Globus. Machen T und ich nicht. Findet Öpa mehr als bedauerlich. Er ist nämlich süchtig nach fremden Ländern und Kulturen. Und versteht nicht, warum T seine Leidenschaft nicht teilt. Ach, wenn er nur wüsste. Väterchen, erklärt T vorwurfsvoll, wenn er mal wieder seufzt, dass sie viel zu wenig von der Welt sieht, erstens habe ich keine Lust, alleine zu verreisen. Und zweitens, du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich Milla stundenlang alleine bei den Koffern im eiskalten Frachtraum lasse. Am Ende vergessen die die Heizung anzustellen und dann ist die Puppylotte tief gefroren. Wie mein Futter, das T manchmal vergisst aufzutauen?! Klingt nicht verlockend.

Öpa hat dafür Verständnis. Öpa bedauert T’s Singleleben. Und Öpa ist geschickt. Er zeigt Urlaubsfotos und schwärmt. Schreibt Reisetagebücher und lässt T sie lesen. T bewundert seine Bilder, lauscht aufmerksam seinen Erzählungen, liest interessiert seine Erinnerungen und sagt trotzdem jedes Mal: Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns Flügel gegeben. Was der liebe Gott jetzt damit zu tun hat, verstehe ich nicht. Mit Ihm hat T doch sowieso keine Verträge.

Allerdings… Wann immer es Fotos von Stränden und Sonnenuntergängen und Palmen und Tempeln und dunkelhäutigen Zweibeinern und bunten Märkten und exotischen Tieren bei Öpa, Onkel A oder bei BB zu bewundern gibt, seufzt T und ihre Stimme klingt wie leiser Regen. Deswegen weiß ich, dass T schon auch gerne durch die Weltgeschichte reisen, zur Not auch fliegen würde. Wenigstens hin und wieder. Statt nur im Auto ans Ostmeer oder zum Atlantischen Ozean zu fahren. Mir zuliebe verzichtet sie tapfer.

Bis auf ein Mal. Da hat sie sich aus Liebe zu Öpa überreden lassen, mit ihm in ein Flugzeug zu steigen. Ohne mich als Gepäckstück aufzugeben. Stattdessen bewachte ich Öpas Haus und seine M.

Das war in dem Jahr, als Öpa anfing, häufiger Dinge zu vergessen. Wo sein Hausschlüssel liegt. Wie sein CD-Player funktioniert. Dass seine Brille in seiner Hemdtasche wartet. Er fuhr nicht mehr so richtig sicher mit dem Auto. Dafür mit dem Rasenmäher über das Stromkabel. Er verlor irgendwo sein Gleichgewicht und fand es einfach nicht wieder. Deswegen machen wir, wenn T und ich ihn und seine M jetzt besuchen, keine schnellen Runden mehr mit dem Fahrrad, sondern nur noch langsame zu Fuß.

Was Öpa aber nicht vergessen oder verloren hatte, war seine Sehnsucht. Sein Fernweh nach Vietnam und Namibia. Von BB, die schon lange als Restauratorin in Hué arbeitet, wissen T und ich, dass die da Hunde essen. Gebraten, auf Reis, mit viel Gemüse. Vietnam ist keine Option, sagte T deswegen energisch. Was Öpa mit traurigen Augen akzeptierte. Blieb aber noch Afrika. T war einverstanden. Und vergaß die Sache mit dem lieben Gott und den Flügeln.

Hündin Milla

Öpa organisierte die Reise und T meine Unterbringung. Ich würde in der alten Heimat bleiben, bei M. Wie bei K und L konnte ich mich bei ihr aber auch nicht aufs faule Fell legen. Öpas M ängstigt sich nämlich nicht nur vor Flugzeugen, sondern auch vor Räubern. Deswegen war sie erleichtert, dass T mit Öpa abheben und ich sie in der bodenständigen Zwischenzeit vor Einbrechern beschützen würde.

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Gerade durchfährt mich der Gedanke, ob ich vielleicht so werde wie Öpa? Ich habe nämlich vergessen, wie ich die vielen Tage ohne T, die über rote Dünen lief, die Giraffen und Löwen und Erdmännchen und Strauße sah, und sogar einen Geparden und eine riesige Robbe streichelte, ausgehalten habe. Ich weiß nur noch, dass es keine Einbrecher zu verjagen gab. Und M nicht schimpfte, als ich dem Lockruf eines Brotkantens neben der Kaffeemaschine nicht widerstehen konnte.

*

Als T endlich wieder zu mir zurückkam, roch sie anders. Sie sagte, sie habe die Hitze der namibischen Wüste und das Blau des afrikanischen Himmels in sich. Sie glühte und vibrierte als sie mir von Zweibeinern erzählte, die Butter mit rotem Sand vermischen und sich damit einschmieren. Die aus getrockneten Maiskörnern Armbänder fädeln. Mit Gliterzaugen schwärmte T von Gerüchen und Farben und endloser Weite und dem Gefühl von Freiheit. T duftete nach dem, was Öpa wohl als Fernweh bezeichnet. Und ich ahnte, was sie sagen würde. Öpa hat Recht, Milla, erklärte T dann auch während einer Hunderunde, wir sollten mehr verreisen. Was hältst du von der Schweiz?

Ach, T und ihre rhetorischen Fragen. Was wäre wohl passiert, wenn ich mich beim Klang von Schweiz jaulend und hechelnd unterm Tisch versteckt hätte? Richtig. Wir wären trotzdem gefahren. Also wedelte ich meine Zustimmung, inklusive schief gelegtem Kopf und nach vorne geklappten Ohren. Schweiz klang nicht schlechter oder besser als Ostmeer. Ich stellte mich auf eine lange Autofahrt mit Pinkelpausen im 3-Stunden-Takt ein. Hatte aber nicht bedacht, dass T immer für eine Überraschung gut ist.

Milla und Opa

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